Claudia Mehl – Tausche Sicherheit gegen Herzensprojekt


Von der Industrie ins Handwerk – Warum mir gelebte Werte wichtiger sind als Karriere

 

Hallo liebe Claudia,

wir haben uns an einem meiner Waldbaden Wochenenden kennengelernt und sind ins Gespräch gekommen. Unter anderem ging es um deine berufliche Situation, in der du zum damaligen Zeitpunkt unglücklich warst und etwas verändern wolltest. Fast drei Jahre später haben wir uns bei einem Vortrag wiedergesehen und du hast tatsächlich etwas verändert. Du hast mir erzählt, dass du deinen Job gekündigt hast und nun in ein Projekt einer Bio Bäckerei eingestiegen bist, welches zu einem Projekt ÖKO- Modellregion gehört. Die Bio Bäckerei hat am 01.10.2022 in Astfeld eröffnet und das Projekt Öko Modell Region gibt es in der Region Goslar und Umgebung.

Dazu wollte ich mehr von dir wissen und dachte, dass es auch für meine Newsletter-Abonennt:innen interessant sein könnte. Der/die eine oder andere hat vielleicht auch schonmal überlegt den Job zu wechseln oder auch sonst eine neue Richtung eingeschlagen und ich wollte von dir wissen, wie du es geschafft hast diesen mutigen Schritt zu gehen. Und ich wollte natürlich wissen was dieses tolle Projekt beinhaltet, was das Projekt Öko Modell Region überhaupt ist, wo man die Bio Bäckerei genau findet und was eine Bio Bäckerei so anders macht ?

 

Liebe Claudia, wer bist du und was hast du genau vor dem Projekt Bio Bäckerei gemacht?

Ich bin :-). Vielseitig interessiert. Neugierig. Kreativ. Verunsichert gegenüber den aktuellen Krisen. Gern in der Natur unterwegs.
In den letzten 21 Jahren war ich für ein Metallverpackungswerk tätig, in dem ich mit ganz unterschiedlichen Menschen verschiedener Nationalitäten zusammen arbeiten durfte und in diversen Projekten im Finanz- und IT-Bereich involviert war.

Was war der Grund für einen Wechsel in einen ganz anderen Bereich?

Ich kam an einen Punkt, in dem ich merkte, dass ich dort nicht mehr wirksam sein kann. Ich denke, es ist etwas zutiefst Menschliches: Wir wollen die eigene Energie für etwas Sinnvolles einsetzen, wir wollen wirksam sein! Es wuchs ein Wunsch in mir, einen Job zu finden, in dem ich meine gewonnenen Erfahrungen umsetzen kann, mit dem Fokus auf mehr Nachhaltigkeit, für das Gemeinwohl, um meinen Beitrag zu einem Wandel beizutragen.

Welche Zweifel haben dich bei der Überlegung und Entscheidung für einen Wechsel begleitet?

Mich haben viele Fragen beschäftigt, auch existentielle, wie beispielsweise: Wann ist der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel? Woran erkenne ich eine sinnstiftende, freudvolle Arbeit? Welches Kriterium zeigt mir, was „sinnvoll ist“ und was „wirkt“? Bin ich mit 46 Jahren nicht schon zu alt, um  einen so großen Schritt zu wagen? Was ist, wenn es schief läuft? Diese und andere Fragen können lähmend wirken und die Aufbruchstimmung schmälern. Ich fühlte mich, als wenn ich mich mit einer angezogener Handbremse bewegte.

Was hast du in deinem vorherigen Job zurückgelassen, was der Mehrheit unserer Gesellschaft vielleicht schwerfallen würde?

Zurückgelassen habe ich ein geregeltes, sehr gutes monatliches Einkommen, einen strukturierten Arbeitsalltag, Menschen, mit denen ich gern zusammengearbeitet habe, deren Stärken ich zu schätzen weiß, ein warmes Büro mit einer modernen Ausstattung, einem Netzwerk, das sich von der Gehaltsabrechnung, nötigen Arbeitsmitteln bis zu Weiterbildungsangeboten kümmerte.

Welche Vor- und welche Nachteile gab es bei dieser Entscheidung. Wie bist du bei deiner Entscheidung vorgegangen und wonach hast du deine Entscheidung getroffen?

Der Verkauf eines Geschäftsbereichs war letztendlich der Auslöser. Die Luft wurde dünner, das Zeichen deutlicher, auf das ich gewartet habe, um aktiv zu werden. Ich wollte meine berufliche Laufbahn selbst steuern und nicht darauf warten, mein Büro mangels angebotener Perspektiven selbst abzuschließen.

Was hat dich ermutigt, bzw. geholfen diesen Schritt zu gehen?

Ermutigt haben mich zwei Kurse der Pioneers of Change (https://pioneersofchange.org):
1) response-Ability und 2) Be.Come. Im ersten Kurs ging es um die Handlungsfähigkeit in Zeiten von inneren Krisen. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, was mir Halt gibt, wenn vermeintliche Sicherheiten im Außen wackeln und wo das Potential in meinem Lebensumfeld liegt. Bei Be.Come beschäftigte ich mich mit den Wendepunkten in meinem Leben (Ereignisse, Beziehungen, Erlebnisse, Entscheidungen, Highlights und schwierigen Punkten). Um meinen Weg zu finden, gehörte eine radikale Selbstreflexion dazu.

Wie bist du auf dieses Projekt aufmerksam geworden?

Über die Volkshochschule habe ich in Kooperation mit der Öko-Modellregion Landkreis Goslar an der Workshop-Reihe „Alles BIO oder lieber REGIONAL?“ teilgenommen. Dort haben wir uns mit Bio-Siegeln beschäftigt, unsere und anderer Leute Überzeugungen hinterfragt oder uns intensiv mit Aussagen und Vorurteilen von Skeptiker*innen von BIO-Produkten auseinandergesetzt.
Dann habe ich an der Bio-Regio-Challenge teilgenommen. D.h. ich habe eine Woche lang mich so weitgehend wie möglich aus bio-regionalen Zutaten ernährt und die zurückgelegten Kilometer der Nahrungsmittel dokumentiert. Dabei ist mir aufgefallen, dass es große Lücken vor Ort und in meinem Einkaufsumfeld gibt.

Was kann man sich unter dem Projekt Ökomodell Region vorstellen?

Grundsätzlich werden Öko-Modellregionen (kurz ÖMR genannt) ins Leben gerufen, um den regionalen Anteil an ökologisch wirtschaftenden Betrieben auszubauen. In Niedersachsen gibt es seit 2020 erstmals drei ÖMR (in Uelzen, Holzminden und Goslar), die vom Niedersächsischen Landwirtschaftsministerium unterstützt werden. In der ÖMR Landkreis Goslar wird neben der Landwirtschaft auch verarbeitende Betriebe, Vermarktungsstrukturen wie z. B. regionale Nahversorgung mit Lebensmitteln, Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen u. ä., die Gastronomie sowie die Verbraucherinnen und Verbraucher in den Blick genommen. Es ist keine Modeerscheinung mehr, bewusster einzukaufen und zu essen. Die Zukunft is(s)t BIO & REGIONAL!

Was macht dieses Projekt für dich so besonders?

Die Harzbrot eG ging aus einem Arbeitskreis hervor, der sich aus Ehrenamtlichen und Interessenvertreter*innen gebildet hat und der von der ÖMR Landkreis Goslar initiiert wurde. Nach der Bio-Regio-Challenge bin ich angesprochen worden, ob ich Lust hätte, dazuzukommen. Wir entwickelten unsere Vision, die komplette Wertschöpfungskette in den Landkreis zu holen – vom Acker über Mühle, Bäckerei, Einkaufskorb bis auf unseren Teller. Nachhaltigkeit steht für „Erhalten“. Langlebigkeit, Stabilität, Transparenz, Nachverfolgung und Partizipation sind Teil unseres Konzeptes, die ich in meinen ehrenamtlichen Aufgaben als sehr wichtig betrachte und schon länger verfolge. Dazu gehört der bewusste Blickwinkel auf ‚enkeltaugliche‘ Lösungswege, ressourcenschonende Entscheidungen zu lenken, wie z. B. die Verpackungsfrage bei der Anlieferung aus recycelten Materialien, wiederverwendbaren Kisten oder der Nutzung von Stoffbeuteln. Dadurch stärken wir die Region, ihre Arbeitsplätze und geben den Abnehmer*innen Vertrauen in ihr Grundnahrungsmittel. Wir verzichten in der Bäckerei auf Nachtarbeit (sozial, familienfreundlich) und legen Wert auf gute Arbeitsbedingungen und faire Bezahlung. Aufgrund der Kooperation mit der etablierten Bäckerei Braun profitiert Harzbrot eG von der Übernahme der angeheizten Backöfen. Das ergibt einen energiesparenden Synergieeffekt und ist ein bemerkenswerter Pluspunkt bei der aktuellen Energiekrise.

Was sind deine Aufgaben in diesem Projekt?

Meine Aufgabe ist es, tatkräftig mitzuhelfen, dass unsere Vision in die Praxis umgesetzt wird. Es gilt der gemeinsame Aufbau, der wirtschaftliche Betrieb der Bio-Bäckerei mit einer nachhaltigen und resilienten Versorgungsstruktur im Bereich der Grundnahrungsmittel von Broten und Kleingebäck zu etablieren mit allen denkbaren kleinen Schritten und großen Meilensteinen: von der Gründung der Genossenschaft, bis zur Anmeldung und Registrierung bei den Ämtern (Genossenschaftsregister, Finanzamt, Gewerbeamt, Bio-Zertifizierungsstelle, Handwerkskammer etc.), der Kundengewinnung bis zur Buchhaltung und Berichterstattung.

Wo genau findet man die Bio Bäckerei?

Eine Besonderheit ist, dass die Bio-Bäckerei EU-zertifiziert wurde und in der Backstube bei einem konventionellen Bäcker angesiedelt ist: Bäcker Braun GmbH, Am Nonnenteiche 9 in Langelsheim, OT Astfeld. Wir haben keine eigenen Filialen. Unsere Backwaren werden an Märkte, Hofläden oder sogenannte Abholorte gebracht. Das ist zurzeit noch ein Entstehungsprozess. Jede/r ist willkommen, mitzuhelfen, uns Orte zu nennen, wohin wir unsere Backwaren liefern können. Diesen Vorschlägen gehen wir peu-à-peu nach mit dem Ziel, ein flächendeckendes Vertriebsnetz zu knüpfen.

Was sind die Unterschiede zu einer herkömmlichen Bäckerei?

Ein Unterschied ist, dass wir als Gesellschaftsform die Genossenschaft gewählt haben (soziale Komponente). Als Genosse / Genossin besteht die Möglichkeit, in ein zukunftsweisendes Projekt zu investieren, das einerseits die gesamte Wertschöpfungskette in die Region und damit in das eigene Lebensumfeld holt und andererseits die Bedeutung aller Beteiligten entlang der “Wertschätzungskette” in den Vordergrund stellt. Die enge Zusammenarbeit der Bäckerei mit den landwirtschaftlichen Betrieben aus der Region führt zu außergewöhnlichen Alleinstellungsmerkmalen:
Anpassungsmöglichkeit an den Klimawandel bei Getreidesaaten und -sorten, den Aufbau verlässlicher, fairer und transparenter Strukturen zur Versorgung der Bewohner*innen der Region mit gesunden, hochwertigen Backwaren, die Achtsamkeit und Förderung fruchtbarer Böden, die eine wesentliche Voraussetzung zur Ernährungssicherheit darstellen (vielfältige Fruchtfolge des Ackerbetriebes), den Ausbruch aus der Branchen-Konformität und einer klaren Abhebung vom Konzept konventioneller Bäckereien.

Die Herstellung erfolgt nach den Grundregeln für die handwerkliche Herstellung von Brot und Backwaren ohne Convenience-Produkte und die Vielzahl möglicher Zusatz- und Verarbeitungshilfsstoffe.

Das Aushängeschild von Bio-Getreide ist, dass es weder gebeizt noch chemisch gedüngt wird. Bio-Erzeuger*innen setzen auf schonende Methoden wie das Striegeln, bei dem das Beikraut mechanisch unschädlich gemacht wird. Die Mitglieder der Genossenschaft können als Multiplikator*innen zur Sensibilisierung für das Thema Boden zum Wissenstransfer eines gesunden Lebensmittels im Einklang mit der Natur beitragen.

 

Wie kann man das Projekt Öko Modell Region unterstützen, bzw. sich selbst einbringen?

Die Öko-Modellregion Landkreis Goslar ist sehr kreativ und lädt immer wieder zu neuen Aktionen und Veranstaltungen ein. Am Apfelbestimmungstag (24.09.) gab es beispielsweise die Gelegenheit, die hauseigenen Apfelsorte von einer Fachfrau, einer Pomologin, bestimmen zu lassen. Aktuell läuft noch bis zum 6. Oktober 2022 die Aktionswoche „Deutschland rettet Lebensmittel“. Es gibt einen Newsletter, um immer über die nächsten Aktivitäten informiert zu sein. Link: www.oekomodellregion-goslar.de

Bei der Harzbrot eG besteht die Möglichkeit, Mitglied der Genossenschaft zu werden und unsere Idee finanziell mit einem Pflichtanteil von 200 € zu unterstützen. Unabhängig von der Anzahl der Anteile hat jedes Mitglied ein Stimmrecht bei der Generalversammlung. Als saisonale Veranstaltungen planen wir für unsere Mitglieder den Besuch eines Biohofs, die Besichtigung der Mühle, Laden zum ‚Frontbaking‘ für alle Sinne in die Backstube ein oder zur Brotverkostung. Das Beitrittsformular gibt es unter folgendem Link: www.harzbrot.jetzt oder es kann unter mail@harzbrot.jetzt angefordert werden.

Wo findet man weiterführende Infos über die Projekte?

Um Transparenz zu schaffen und alle Genossenschaftsmitglieder und Interessierte an der Bio-Bäckerei auf dem Laufenden zu halten, berichten wir über Neuigkeiten aus der Backstube. Per E-Mail kann sich dazu jede/r Interessierte in den Verteilerkreis aufnehmen lassen.
Zusätzlich arbeiten wir an einer eigenen Homepage mit Kurzvideos, um auf die Einzigartigkeit des Projektes, ihrer Beteiligten und der traditionellen Brotkunst aufmerksam zu machen.

Welchen Tipp würdest du meinen Leser:innen  abschließend auf den Weg mitgeben, wenn sie vor einer richtungsweisenden Entscheidung stehen, z.B. vor einem Jobwechsel?

„Der wichtigste Schritt ist der erste. Brich auf!“, brachte es Heini Staudinger auf den Punkt. Sage JA zu dem, wie es JETZT ist. Gestehe es dir ein. Sage JA zur Intention, was deine Sehnsucht ist. Was ruft dich? Sage JA zum Weg der Veränderung. Gestehe dir ein, dass es Schritte dahin benötigt, dich zu öffnen, darauf zu hören, was dir hilft. Lebe dein Ändern.

 

Vielen Dank liebe Claudia für deine Offenheit und deine Bereitschaft diesen für dich wichtigen Schritt mit uns zu teilen.