Elftausend – zu Fuß durch den Westen der USA – Interview mit Extremwanderer Niels Rabe


Elftausend – zu Fuß durch den Westen der USA

Der knapp 11.000km lange Great Western Loop gilt als eine der größten Herausforderungen des Fernwanderns und setzt sich aus einigen der bekanntesten amerikanischen Fernwanderwege zusammen.

Der Great Western Loop ist ein Wettlauf gegen den Winter. Die Zeit für die Überquerung der 4.000m hohen Rocky Mountains und der Sierra Nevada ist begrenzt, denn der nahende Winter droht wichtige Bergpässe zu verschließen. Zwischen diesen Gebirgen, liegen die trockenen Wüsten Arizonas und Kaliforniens, die Bärengebiete Montanas und zahlreiche Nationalparks.

Nie zuvor hat ein Mensch, dieses Abenteuer gegen den Uhrzeigersinn gewagt.

In seinen 222 Tagen in der amerikanischen Wildnis verlor Niels Rabe u.a. 15 Kg durch eine Giardia-Infektion. Er hing mit seinem Leben an einer Eisaxt und durchquerte mehr als 100km Wüste ohne eine einzige Wasserquelle.

In seinem Buch „Elftausend“ beschreibt Niels Rabe spektakuläre Reise voller unvergesslicher Momente und unbedingtem Willen. Eine Reise geprägt von faszinierenden Begegnungen und knallharten Herausforderungen, wie Hunger, Durst und Orientierungsverlust, die ihn regelmäßig an seine körperlichen und mentalen Grenzen führten.

Ich habe Niels bei meiner Ausbildung zum Trekkingguide- Wander- und Naturreiseleiter/in kennengelernt.
Er ist mir als hilfsbereiter, erfahrener Mensch in Erinnerung geblieben. Immer etwas unruhig, immer so ein wenig das Gefühl, als sei er auf dem Sprung, so als würde sich die Welt nicht schnell genug für ihn drehen. Heute darf ich dir mein Interview mit ihm vorstellen.

Erkennst du dich aus meiner Beschreibung wieder oder ist meine Wahrnehmung eine völlig andere?
Wer steckt hinter dem Abenteurer Nils? Wie würdest du dich selbst beschreiben ?
Das passt. Mehr zu mir ergibt sich aus den u.s. Antworten…

Wie lange hast du deine Wanderung im Voraus geplant, und wie hast du dich darauf vorbereitet?

Meine Planung habe ich im Sommer 2019 begonnen. Zunächst mit vielen Recherchen, Ausrüstungstests und Excel-Tabellen, welche Entfernungen und Routenplanungen enthielten. Das Problem am Great Western Loop ist nicht die Distanz von knapp 11.000 Kilometern, sondern die Tatsache, dass ich im Osten durch die 4.000 m hohen Rocky Mountains und im Westen durch die ebenfalls 4.000 m hohen Berge der Sierra Nevada musste. Diese Gebirge sind wegen der Schneeverhältnisse nur zwischen Mai und Oktober passierbar. Gleichzeitig kann ich in den Wintermonaten aber auch nicht in den Bergen nahe der kanadischen Grenze, oder im Sommer durch die Wüste New Mexico´s laufen. Das hat die Planung und das verfügbare Zeitfenster für den Start sehr kompliziert gemacht.
Mein Start musste im März, oder April erfolgen. Von Flagstaff aus musste ich dann zeitig die Rockies erreichen, mich mit Schneeschuhen durch den abtauenden Schnee kämpfen, um dann noch genug Zeit zu haben, um die rund 6.500 Kilometer bis zur Sierra Nevada zu schaffen, bevor die ersten Winterstürme einbrechen würden. Das bedeutete ich musste 4-5 Monate lang jeden Tag 50 Kilometer im Durchschnitt laufen. Der Great Western Loop war also ein erbarmungsloser Wettlauf gegen den Winter.
Ende 2019 begann dann mein Training. Hierfür bin ich nach Neuseeland geflogen und den 3.000 Kilometer langen Fernwanderweg „Te Araroa“ gelaufen. Mein Ziel war es nach ca. zwei Monaten 60 Kilometer pro Tag laufen zu können. Als ich den Trail nach drei Monaten beendet hatte, ging es direkt in die USA. Mitte März 2020 startete ich dann meinen ersten Versuch, den ich aber wegen Corona im April abbrechen musste. Ziemlich geknickt ging es heim. Ohne Job, ohne Wohnung und mit einem gescheiterten Traum, war für mich aber doch klar, dass ich einen neuen Versuch im darauffolgenden Jahr wagen würde. Die Zeit bis dahin wollte ich optimal nutzen, um, um mich noch besser vorzubereiten. So entschied ich mich dann auch zur Trekking Guide Ausbildung.

Worin lag der Reiz für dich so einen gefährlichen außergewöhnlichen Wander-Trip zu machen?

Welche Bedürfnisse wolltest du damit stillen ?
Und ist es dir gelungen diese auch zu stillen ( kurzfristig, langfristig )?
Ich habe den Trail nie als außerordentlich gefährlich empfunden. Das klingt immer so reißerisch. Natürlich gab es gefährliche Situationen und Risiken, mit denen ich mich im Vorfeld auch auseinandergesetzt habe. Letztlich waren dies aber alles weitgehend kalkulierbare Risiken. Ich persönlich habe mehr Angst davor mit 90 Jahren auf meinem Sterbebett zu liegen und an all die Abenteuer und Erlebnisse zu denken, die ich nie gewagt habe.
Im normalen Leben arbeite ich als Projektmanager und verbringe viel Zeit hinter dem Computer. Die Zeit in der freien Natur ist hierzu der perfekte Ausgleich.
Nachdem ich 2018 den Pacific Crest Trail gelaufen bin, wollte ich 2020 zunächst „nur“ den ca. 4.500 Kilometer langen Continental Divide Trail laufen. Durch Zufall stieß ich dann auf den Great Western Loop und sah, dass offenbar noch Niemand vor mir diese Route gegen den Uhrzeigersinn geschafft hatte.

Das hat mich neugierig gemacht. Ich wollte wissen, warum dies noch Niemand gewagt hatte. Ich wollte wissen, ob es machbar ist und inwieweit es mich als Person verändern würde. Ich hatte einfach Lust auf ein Stück Lebenserfahrung, auf etwas Einzigartiges, dass mir Niemand jemals würde nehmen können. Etwas dass völlig absurd schien und mich vor völlig neue Herausforderungen stellen würde. Ich wollte wissen, ob ich das Zeug habe, diese Herausforderung zu bewältigen. Dieser Gedanke hat mich nicht mehr losgelassen.

Ob meine Neugier und Abenteuerlust nach dem Trail gestillt ist, ist schwer zu sagen.

Der Great Western Loop war die härteste Erfahrung meines Lebens. Gleichzeitig, aber auch die Schönste. Ich will keine Sekunde dieses Abenteuers missen. Auch nicht die schlechten und schwierigen Momente. Mark Manson schreibt in seinem Buch „The subtle art of not giving a fuck“, dass Glück oftmals aus der Überwindung von Problemen und Herausforderungen besteht. Das sehe ich auch so. Der Trail hat mich vor immer neue und schwierige Herausforderungen gestellt, doch was auch immer kam. Dort draußen war ich glücklich. Ich war der Herr meines eigenen Schicksals. Ich hatte die volle Kontrolle und die volle Verantwortung für all meine Taten. Nie zuvor habe ich derart intensiv und bewusst gelebt.
Was waren deine außergewöhnlichsten Momente ?
In meinen 222 Tagen habe ich u. a. 15 kg durch eine Infektion verloren, ich bin zweimal von vereisten Hängen abgerutscht, habe mich als erster Mensch in der Saison durch die verschneiten Rocky Mountains gekämpft. Ich wurde von einem Fluss mitgerissen, vor Waldbränden evakuiert und habe in Arizona 112 Kilometer Wüste ohne eine einzige Wasserquelle durchquert. Ich bin in einem Supermart wegen Wassermangel kollabiert und habe fürchterliche Angst, erbarmungslosen Hunger und bitteren Durst erfahren. Bären, Klapperschlagen und Pumas gesehen und unfassbar intensive Momente des Glücks, aber auch der Verzweiflung erlebt. Trotz all dieser Herausforderungen habe ich immer an mich und an meinen Traum geglaubt. Unbeirrt, entschlossen und manchmal vielleicht auch stur, wie ein Esel habe ich am Ende mein Ziel erreicht. Ich habe etwas geschafft, dass mir heute niemand mehr nehmen kann. Etwas Einzigartiges, für das ich viel riskiert habe. Dieses Risiko hat sich gelohnt. Es war eine Erfahrung die meine Zukunft verändern und bereichern wird.

Was war dein schlimmstes, was dein schönstes Erlebnis?

Es gab zwei schlimme Erlebnisse, die mich sehr geprägt haben.
Das erste Erlebnis hätte mich fast mein Leben gekostet. Das Zweite fast meinen Traum.
Das erste Erlebnis ereignete sich auf rund 3.500m Höhe in den verschneiten Rocky Mountains.
Der Schnee hatte den sonst ebenen Trail überdeckt und in einen steilen Hang verwandelt, auf dem ich selbst mit Steigeisen nur schlecht Halt fand. Ich musste immer wieder meine Eisaxt nutzen und mich an Bäumen festhalten, um Engpässe sicher zu überqueren. An einer Spitzkehre musste ich stoppen. Der Trail vor mir war unpassierbar. Mir blieb erneut nur ein Aufstieg über den Grat, um dann etwas weiter oben eine geeignete Stelle für die Traverse zu finden. Mit der Eisaxt in der dem Berg zugewandten Hand und dem etwas längeren Trekkingstock in der anderen Hand begann ich die Traverse. Und stürzte ab.
Meine Eisaxt bremste den Sturz, aber die Wucht meines Sturzes hatte sie aus dem Eis gerissen. Unkontrolliert schoss ich den Abhang hinab und sah die Wipfel der Bäume unter mir immer schneller auf mich zukommen. Rund 40 m unterhalb meiner Position lag eine kleine Klippe und mir war sofort klar, was das bedeutete. Verzweifelt versuchte ich, die Kontrolle über meine Eisaxt zu erlangen, die glücklicherweise noch an meinem Handgelenk baumelte. Meine Reaktion war schnell. Während ich Meter um Meter weiter rutschte, bekam ich die Eisaxt zu fassen, warf meinen Körper herum und rammte die Axt in den Schnee. Ich wurde langsamer, aber ich rutschte noch immer weiter in Richtung des Felsvorsprungs. Endlich bekam ich auch mit der zweiten Hand die Eisaxt zu fassen. Ich legte meine rechte Hand über die Schaufel, die mir auf dem harten Eis immer wieder ins Gesicht entgegenschlug, und presste sie hart in den Schnee. Dann zog ich die Eisaxt diagonal unter meinen Oberkörper, brachte meinen Schwerpunkt über die Haue und winkelte meine Beine an, um all mein Gewicht auf einen einzigen kleinen Punkt zu konzentrieren. Dann war alles getan, was ich tun konnte, um mein Leben zu retten. Der Rest war hoffen. Und während die Klippe immer näher kam, ging mein Blick hinunter ins Tal. Noch 35 m bis zur Klippe! Dann 30 m und ich rutschte weiter! Nach rund 15 Metern wurde ich langsamer und stoppte. Ich hatte meinen Sturz abgefangen und konnte mich auf den Hang pressend durchatmen. Die Gefahr war vorüber. Ob ich einen Absturz hier überlebt hätte, weiß ich nicht. Vielleicht ja, aber wäre ich über den Felsvorsprung gerutscht, wäre ich vermutlich von einem der Bäume in der 150 m tiefer gelegenen Schlucht aufgespießt oder erschlagen worden.
Das zweite Erlebnis ereignete sich einige Monate später kurz vor der Grenze zwischen Oregon und Kalifornien.
Ich war wenige Meilen vom Windigo Pass entfernt und rastete für einige Minuten auf einem Bergkamm. Ich bemerkte, dass ich dort oben Empfang hatte, und checkte kurz meine Nachrichten. Und plötzlich war alles anders. Der U.S. Forest Service hatte am Morgen angekündigt, dass neben den initial zehn geschlossenen Wäldern nun alle (!) Nationalwälder in Kalifornien für knapp drei Wochen geschlossen würden. Mehr als 2.000 Kilometer des PCT waren damit unzugänglich. Würde ich warten, würde ich  es niemals rechtzeitig durch die Berge schaffen. Alle meine Pläne, die Feuer in Nordkalifornien zu umgehen, waren hinfällig. Kalifornien war dicht. Mein Abenteuer stand vor dem Aus. Ich blickte ungläubig auf mein Handy. Die Nachricht zog mir den Boden unter den Füßen weg. Plötzlich war ich einfach nur noch unendlich müde, wütend, frustriert und enttäuscht. Ich war kurz davor, in Tränen auszubrechen. War dies das Ende meiner Wanderung? War jetzt wirklich alles umsonst gewesen?
Nach mehr als 7.000 Kilometern und über 150 Tagen in der Wildnis schien alles, wofür ich in den letzten Monaten so hart gearbeitet hatte, vergebens zu sein. Alle Umwege, alle Plananpassungen, all die Schmerzen und die unzähligen Meilen schienen plötzlich völlig wertlos zu sein. Alle meine Überlegungen, wie ich die Feuer in Nordkalifornien umgehen wollte, verpufften. Der Trail hatte mir viele Steine in den Weg geworfen. Bis hierhin hatte ich alle aus dem Weg geräumt und war an der Herausforderung immer weiter gewachsen, doch die aktuelle Schließung schien einfach keine Option mehr offen zu lassen. Zu groß war der betroffene Bereich.
Andere Hiker rieten mir dazu, nun auch endlich aufzugeben und den Trail zu verlassen, aber mir war klar, dass es keinen dritten Versuch für den Great Western Loop geben würde. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich an das Schicksal jener Menschen in South Lake Tahoe und Chester dachte, die gerade um ihre Existenz kämpften und ganz andere Sorgen plagten als mich. Die Vorstellung dessen, was gerade viele Menschen durchmachen mussten, bewegte mich sehr. So frustriert ich auch war, so war für mich klar, dass ich mich an die Vorgaben halten würde. Die Entscheidung des U.S. Forest Service war nur schwer für mich zu akzeptieren. Aber nachvollziehbar. Bei mehr als 100–130 zeitgleich brennenden Feuern waren die Behörden einfach am Limit. Die Vorstellung, wegen eines albernen Rekordversuches selbst in Schwierigkeiten zu geraten und dadurch Einsatzkräfte zu binden, während irgendwo die Existenz eines Menschen abbrannte, machte mir die Entscheidung einfacher. Ich hatte kein Recht mein Abenteuer über das Wohl der Menschen vor Ort zu stellen.
Über den schönsten Moment muss ich tatsächlich lange nachdenken.
Es gab unzählige wundervolle Momente. Die Begegnung mit Schwarzbären, oder den beiden Pumas die mit unvergleichlicher Eleganz durch die Berge sprangen, die Geysire im Yellowstone Nationalpark, oder die unendliche Weite der gnadenlos trockenen Wüste Arizonas, oder die wundervolle Einsamkeit in einer Welt aus Eis und Schnee tief in den Rocky Mountains.
Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir aber jener Moment, als ich Anfang Juni das Ende der Rocky Mountains in Colorado erreichte. Der Weg zum Bridger Pass war schwer, aber von hier ging es stetig bergab. Geradewegs durch die Medicine Bow Wilderness, deren Wegweiser nur zur Hälfte aus dem Schnee herausragten. Um 09:05 Uhr war es dann so weit. Der Blick nach Norden lag frei. Was ich sah, war nichts. Keine Berge, kein Schnee und auch keine reißenden Flüsse. Nur flaches, grünes Land. Ich atmete durch und setzte mich für einige Minuten auf den letzten Rest des Schnees. Ich schnallte meine Schneeschuhe ab und spürte, dass meine Füße etwas wärmer waren als üblich. Als ich meine Socken auszog, sah ich, dass diese von innen blutgetränkt waren.
Im weichen Schnee der letzten Meilen, hatte ich meine Schneeschuhe so oft mit aller Kraft aus dem Schnee ziehen müssen, dass die Gummi-Schnallen mir tief ins Fleisch geschnitten hatten und meine Füße an einigen Stellen aufgeplatzt waren. Doch das alles war egal. Ich hatte Colorado und die Rocky Mountains im Mai geschafft. Noch heute bewegt mich jenes Bild, das ich an diesem Ort schoss, zutiefst. Auf den unwissenden Betrachter wirkt das Bild völlig unscheinbar, doch für mich ist es voller Emotionen. Die Last und die Sorgen, die in diesem Moment von meinen Schultern fielen, sind nicht in Worte zu fassen. Ich spürte pure Erleichterung, Stolz und eine tiefe Genugtuung. Die letzten Wochen in Colorado waren unfassbar hart und entbehrungsreich gewesen. Ich hatte kämpfen und Ängste überwinden müssen, um so weit zu kommen und dennoch wollte ich keinen dieser Tage missen. Diese Wochen im Schnee haben mich nachhaltig geprägt. Doch nun konnte ich den Trail endlich wieder sorgenfrei genießen. Das, was viele Hiker abschreckte, hatte ich erfolgreich durchgestanden. Colorado im Mai war ein gefährliches Abenteuer gewesen.
Zu behaupten, ich hätte „überlebt“, klingt zu dramatisch, aber es war manchmal knapper als mir lieb war.
Gab es eine besondere zwischenmenschliche Begegnung/Erfahrung?
Ja, es gab viele besondere Begegnungen. Ich bin den Amerikanern sehr dankbar, für die Unterstützung die ich unterwegs erfahren habe. Es ist sehr bewegend, wenn wildfremde Menschen dir mitten in der Wüste eine Handvoll Erdbeeren, oder aus einem vorbeifahrenden Auto eine Dose Cola reichen. Manchmal wollten Menschen mein Essen im Restaurant bezahlen, nachdem sie meine Geschichte gehört hatten. Diese Unterstützung hat mich immer wieder motiviert weiterzulaufen und mir durch so manches Tal geholfen. Eine Situation ist mir aber in besonderer Erinnerung geblieben.
In Grants, New Mexico sah ich einen alten, obdachlosen Mann, der mir zuwinkte. Instinktiv winkte ich ab und bevor ich wirklich hörte, was er zu mir sagte, hatte ich bereits ein lapidares und ablehnendes „Thanks, i´m fine“ ausgesprochen. Erst dann drangen seine Worte wirklich zu mir durch. „Hey, are you hungry? I got two sandwiches and i´m happy to share!” Ich stutzte und realisierte meinen Fehler. Doch ich hatte bereits reagiert und bekam als Antwort darauf ein: „Alright, just asking. I know how it feels to be hungry.“ Mir rutschte das Herz in die Hose und ich hatte einen Kloß im Hals. Ich fühlte mich armselig und hatte nicht den Anstand, um stehenzubleiben. Mit meinen zerrissenen Kleidern sah ich kaum einen Deut´ besser aus als jener Mann, den ich gerade verurteilt und abgewertet hatte. Aus Angst, selbst etwas abgeben zu müssen oder gar zu verlieren, hatte ich ablehnend und respektlos reagiert.
Der Mann wollte mir nichts nehmen. Das Gegenteil war der Fall, denn wohlwissend, wie es sich anfühlt, hungrig zu sein, wollte er jenes bisschen Essen, das er in seiner spärlichen Plastiktüte hatte, mit mir teilen. Wie heißt es doch so schön? „Don´t judge a book by it´s cover“. Selten war dieses Sprichwort treffender als in diesem Moment. Ich hatte einen grausamen Fehler gemacht und diese kurze Begegnung, die kaum zwei Minuten dauerte, hängt mir noch heute nach. In eben jenem Moment war nicht der obdachlose Mann arm, sondern ich. Charakterlich arm. Es soll mir eine Lehre sein.
Der Mensch, ein Herdentier, der eine mehr, der andere weniger.
Was hat das Alleine sein mit dir gemacht? Hast du dich mal einsam gefühlt? Und wie konntest du damit umgehen?
Hier ist es wichtig zwischen Einsamkeit und dem alleine sein zu unterscheiden.
Ich bin gerne allein und fühle mich in großen Gruppen eher unwohl. Das Gefühl, allein zu sein, ist hierbei aber keineswegs gleichzusetzen mit Einsamkeit. Ich habe mich dort draußen nie einsam gefühlt. Ich war umgeben von einigen der schönsten Landschaften die diese Erde zu bieten hat und habe mich dort draußen stets behütet gefühlt. Ich habe wundervolle Begegnungen mit wilden Tieren und gelegentlich auch anderen Wanderern erlebt.
Zudem war mir klar, dass ich knallhart zu mir sein musste um den Great Western Loop zu schaffen. Diese Härte konnte ich von keiner anderen Person zumuten und ich war auch nicht bereit die zusätzliche Verantwortung für eine weitere Person zu übernehmen. Ich wollte mich ganz bewusst auf mich und mein Ziel konzentrieren. Kompromisse würden mich nicht ans Ziel bringen.
Ich erinnere mich noch gut an meinen aller letzten Tag auf dem Trail. Rastlos und mein Ziel vor Augen habend beschloss ich gegen 4:00 Uhr, aufzustehen und mein Zelt abzubauen. Um mich herum hörte ich ein konstantes und unheimliches Bellen und Heulen einer Gruppe Coyoten. Mehrfach drehte ich mich um und suchte mit der Taschenlampe meines Handys die Umgebung ab. Angst hatte ich aber nicht. Die Coyoten waren mein letztes Geleit auf dem Weg in die Stadt. Eine Ehrenformation des Waldes, die mich auf meinen letzten Metern begleitete und sicher in die Stadt führte.
Es war ein letzter Gruß der Natur am Ende einer langen und intensiven Beziehung, in der wir uns gut kennengelernt hatten. Es war, als würde der Wald von mir Abschied nehmen und mir ein allerletztes Mal Respekt zollen wollen. Auf diesen letzten Metern konnte mir nichts mehr passieren. Ich fühlte mich behütet und beschützt und ich genoss jeden einzelnen Atemzug.
Zu sagen, dass ich Teil der Natur geworden bin klingt absurd, aber die Wahrnehmung der Natur und seiner Eigenheiten verändert sich, wenn man mehrere Monate dort draußen verbracht hat. 
Hast du dir mentale Techniken angeeignet, die dir unterwegs geholfen haben, wenn ja verrätst du sie uns?
Gab es Momente in denen du aufgeben wolltest und das Gefühl hattest du schaffst es nicht ? Wenn ja was hat dir geholfen weiterzumachen?
Ja, zum einen habe ich versucht mich immer nur auf die gerade vor mir liegende Etappe zu konzentrieren, um nicht von der Größe der Herausforderung überwältigt zu werden. Ich habe mir die Tour in viele kleine Etappen eingeteilt, die allein betrachtet alle gut zu bewältigen waren. Ich hatte stets ein klares Ziel vor Augen. Die nächste Stadt, der nächste Burger, oder die nächste Dusche in einem kleinen Motel. Natürlich musste ich aber auch immer wieder vorausschauend planen und die restliche Strecke im Blick behalten. Ich habe mir daher auch immer wieder vorgestellt, wie ich am Ende der Tour nach Flagstaff einlaufe. Jene Stadt in der ich Ende März gestartet war. Ich habe mir vorgestellt, wie ich am Ortsschild auf die Knie sinke und meine Faust in den Himmel recke. Wissend, etwas geschafft zu haben, was vor mir noch kein Mensch geschafft hatte. Dieses Bild hat mich motiviert und mich immer wieder angetrieben.
In schwierigen Momenten half mir zudem das Gedicht „Invictus“ von William Ernest Henley. Invictus bedeutet soviel, wie „Unbezwungen“, oder „Unbesiegt“ und jenes Zitat hat Nelson Mandela während seiner Gefangenschaft auf Robben Island Kraft gegeben. Die entscheidende Passage lautet „I am the master of my fate, i am the captain of my soul.“ Es geht darum, dass eigene Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Verantwortung für die eigenen Entscheidungen in voller Konsequenz allein zu tragen. Und es geht darum, seine Einstellung und Geisteshaltung entsprechend anzupassen. Ausreden zählen nicht. Niemand außer mir selbst trägt die Verantwortung für meine Entscheidungen. Im tiefsten Schneesturm hatte ich nicht die Option mich weinend in die Ecke zu setzen und darauf zu vertrauen, dass mich jemand aus der Situation befreit. Ich selbst musste aktiv werden. Ich selbst musste handeln und eine Lösung finden. Ich hatte mich bewusst für dieses Abenteuer entschieden und musste mich mit den Konsequenzen auseinandersetzen.
Was mir noch geholfen hat, waren funktionierende Routinen. Klar strukturierte Abläufe, die mich nicht ins Grübeln kommen ließen. So schaffte ich es morgens innerhalb weniger Minuten zu frühstücken und wieder auf dem Trail zu sein, egal wie das Wetter war.
Der Geist beherrscht den Körper, kannst du das bestätigen?
Absolut. Die körperliche Herausforderung war enorm, aber nicht zu vergleichen mit dem, was mir der Trail mental abverlangt hat. Insbesondere die andauernden Waldbrände im Westen der USA haben mir immer wieder riesige Steine zwischen die Beine geworfen, die mich an meinem Vorhaben, haben zweifeln lassen. Der Great Western Loop war eine Achterbahn aus extremen Emotionen. Pures Glück und absolute Verzweiflung wechselten sich regelmäßig ab.
Mal saß ich weinend vor Glück auf dem Trail. Mal traurig und frustriert, mit dem Gefühl, dass sich der ganze Trail gegen mich verschworen hatte. Aber auch in Momenten größter Verzweiflung bin ich immer wieder aufgestanden und weitergelaufen. Ich hatte es geschafft, mir stets diesen einen kleinen Funken Hoffnung zu bewahren und mich daran zu klammern. Hoffnung ist ein mächtiges Werkzeug. Wenn die Chancen schlecht stehen und es scheint, als hätte sich die Welt gegen uns verschworen, dann braucht es manchmal eine gewisse Sturheit, dennoch auf das Unmögliche zu hoffen. Denn auf Hoffnung können neue Wege gebaut werden. Ohne diese Hoffnung hätte ich nie die Kraft gehabt all die Strapazen auszuhalten.

Im Alltag sind wir oft nicht bei dem was wir gerade tun. Entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft, dabei „ist der Weg das Ziel “ wie man so schön sagt. Vor allem bei unseren Zielen, die wir uns stecken, genießen wir oft den Weg dahin zu wenig, obwohl der Moment , in dem wir das Ziel erreichen meist der kürzeste Moment ist.

Wie war das für dich? Konntest du den Weg genießen oder war das Endziel so gegenwärtig ?

Mein Endziel war natürlich allgegenwärtig. Die Faszination als vielleicht erster Mensch der Welt den Great Western Loop gegen den Uhrzeigersinn zu schaffen hat mich dabei auch immer wieder angetrieben. Ich habe viele Momente dort draußen sehr genossen, aber auch immer wieder gemerkt, dass mein Ziel seinen Tribut gefordert hat. Oft wäre ich gerne etwas länger an einem See geblieben, oder in einer hübschen Kleinstadt, doch der drohende Wintereinbruch hat mich immer wieder auf den Trail gezwungen.
Der mentale Druck die Sierra Nevada nicht rechtzeitig zu erreichen, war stets präsent und hat mich viel Kraft gekostet. Es war aber auch von vornherein klar, dass dieses Wettrennen kein „Genuss“, sondern vielmehr eine physische und psychische Herausforderung werden würde. Darauf war ich eingestellt. Genossen habe ich die Freiheit dort draußen. Die Ehrlichkeit des Trails und die Einfachheit des Lebens. Zum Ende hin war ich sehr hin- und hergerissen. Ein Teil von mir wollte die Strapazen endlich beenden, der andere Teil von mir hatte Angst vor dem, was wohl danach kommen würde.

Kannst du den Moment beschreiben, indem du dein Ziel erreicht hast? Als du am Endpunkt deiner Reise angekommen bist? Welche Gefühle haben dich da begleitet und was hat dein Körper dir gesagt ?

Es war still, als ich Flagstaff erreichte. Es gab keine Fanfaren und auch kein Empfangskomitee. Niemand applaudierte. Niemand feierte mit mir. Niemand nahm Notiz von meinem Erfolg und niemand wartete dort auf mich. Für die Menschen auf den Straßen Flagstaffs war ich nur ein dreckiger, stinkender Hiker, den es zu meiden galt. Es war still. Unendlich still. Ich war allein mit mir und meinen Gedanken. Allein mit mir und meinem Triumph – und das war okay so.
Ich hatte dieses Abenteuer auf mich genommen, um meine Grenzen zu testen, um etwas zu erreichen, was für immer allein mir gehören sollte. Vielleicht klingt es arrogant, aber der einzige Mensch, der in diesem Moment wirklich nachempfinden konnte, welche Strapazen ich erlebt hatte, war da. Und das war ich selbst. Während ich weiter in Richtung Stadtmitte ging, dachte ich an all die schönen und schwierigen Momente, die ich unterwegs erleben durfte. Ich wurde etwas wehmütig, machte ein Abschlussfoto im Stadtzentrum und genoss in aller Ruhe mein letztes Trail-Frühstück in einem kleinen Restaurant. Körperlich ging es mir recht gut, aber ich war mental einfach ausgebrannt.
222 Tage lang war ich oft bis zu 14 Stunden pro Tag gelaufen. Der Great Western Loop war damit der härteste Job den ich je gemacht hatte und ich sehnte mich nun nach etwas Abwechslung vom täglichen Laufen.

Am Ende bleibt das Gefühl, es geschafft zu haben. Allen Widerständen getrotzt zu haben. Das Gefühl, niemals aufgegeben zu haben, egal wie schlecht die Chancen standen und egal wie groß die Schmerzen waren. Ich habe für diesen Erfolg gelitten und meine eigenen Grenzen verschoben. Es ist unmöglich, dieses Gefühl zu beschreiben. Es ist einzigartig. Während all der Strapazen, während all der stetig wechselnden Herausforderungen, gab es eine durchgehende Konstante: meinen ungebrochenen Willen. Den unbedingten Willen, den Great Western Loop zu schaffen, und den klaren Blick, für das, was dafür zu tun war.

 

Was nimmst du für den Alltag aus dieser Grenzerfahrung mit?

Dort draußen habe ich gelernt, dass Motivation, Leidenschaft und Wille die größten Garanten für Erfolg sind. Nichts ist stärker als ein klares Ziel, eine Vision oder diese eine Idee, die unsere Augen zum Funkeln bringt.
Dann spielen auch das Gewicht des Rucksacks, eine Patella Dysplasie oder der Rückschlag durch eine Giardia-Infektion keine Rolle mehr. Unfassbare Dinge sind möglich, wenn man an sich selbst und seinen Traum glaubt und bereit ist, den notwendigen Einsatz dafür aufzubringen.
Nicht immer funktioniert alles auf Anhieb. Auch ich brauchte zwei Anläufe für den Great Western Loop. Das Gegenteil von Erfolg ist aber nicht, zu scheitern. Das Gegenteil von Erfolg ist aufgeben. Scheitern ist ein wichtiger Bestandteil auf dem Weg zum Triumph. Das Leben ist manchmal ein Arschloch. Und jeder von uns hat sein ganz persönliches Paket aus Rückschlägen, schlechten Erfahrungen und Zweifeln zu tragen. Letztlich geht es jedoch darum, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen, die richtigen Lehren daraus zu ziehen und seine Krone zu richten, während man aufs Neue aufsteht und weiterläuft.
Was ich aber insbesondere mitnehme ist eine innere Ruhe. Der Great Western Loop hat mich vor eine Vielzahl völlig neuer Herausforderungen gestellt. Irgendwie habe ich es geschafft für jede dieser Herausforderungen eine Lösung zu finden. Mir ist bewusst, dass ich nicht auf alle Fragen und Herausforderungen des Lebens eine Antwort habe, aber ich weiß nun, dass ich die Kraft und das notwendige Rüstzeug habe, um auf alles eine Antwort zu finden. Diese Gewissheit erarbeitet zu haben lässt mich sehr entspannt und optimistisch in die Zukunft blicken. Das ist der Lohn meines Abenteuers und es fühlt sich sehr gut an.
Jetzt will ich erstmal anderen Menschen Mut machen, die eigene Komfortzone zu verlassen. Mal wieder Dinge zu tun, von denen man selbst überzeugt ist, egal was das Umfeld sagt. Hierbei spielt es keine Rolle, wie groß oder klein der Traum ist. Ob der Traum aus einem Fernwanderweg, einer Selbstständigkeit oder vielleicht einer neuen beruflichen Herausforderung besteht.
Ich weiß, wie einsam die Welt erscheinen kann, wenn niemand sonst an die eigenen Ziele und Träume glaubt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, belächelt und für verrückt erklärt zu werden. Ich weiß, wie es sich anfühlt, nicht ernstgenommen zu werden. Das alles ist in Ordnung. Das alles sind Momente, die wir uns gut einprägen sollten. Diese Momente enthalten Energie und es liegt an uns, ob wir uns von der Negativität herunterziehen lassen oder daraus eine „Jetzt-erst-recht“-Mentalität entwickeln und jene Energie in etwas Positives umwandeln. Es ist okay, Angst vor Veränderung zu haben.
Momente, in denen ich keine Angst habe, sind Momente, in denen ich faul auf der Couch liege und Netflix schaue. Momente, in denen ich keine Entscheidung treffe, Risiken vermeide, dumm und faul vor mich hinlebe und das Heft des Handelns aus der Hand gebe. Veränderungen bedeuten Ungewissheit, Ungewissheit birgt ein Risiko, aber jedes Risiko birgt auch eine Chance. Jenes Risiko, vor dem wir uns so sehr sträuben, könnte ebenso gut jene Chance sein, die unser Leben zum Besseren verändert. Jeder Traum hat ein Recht darauf, gelebt zu werden. Es liegt an uns selbst, dies wahr werden zu lassen
Wann geht’s wieder los und was ist dein nächstes Ziel ?
Ich bin gerade nach Hamburg gezogen und will dieses Jahr nutzen um Vorträge über den Great Western Loop und Workshops unter dem Thema „Fernwandern leicht gemacht“ zu geben, um mehr Menschen an dieser Faszination teilhaben zu lassen. Es müssen ja nicht gleich 11.000 km sein 😉
Danach würde ich aber gerne mal auf etwas kürzere Trails gehen und dort mit einer Drohne tolle Videoaufnahmen machen.
Mehr Infos zu mir und zum Great Western Loop gibt es auf www.justagermanhiker.com
oder
Projektmanagement-Trainings:
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